Geschichten aus Frankfurt


Ich habe das Haus des Herrn Sesemann und seiner Tochter Klara, in dem Heidi seine "Lehr- und Wanderjahre" verbracht hatte, nicht gefunden. Diese Familie scheint es nur in der Phantasie gegeben zu haben. Aber ich war im Kaufhaus Galeria auf der Aussichtsplattform und habe mir vorgestellt, wie Heidi die Berge in der Ferne erblickte, als sie sich auf den Kirchturm geschlichen hatte, um wenigstens von dort aus etwas Heimat zu sehen. Der Turmwächter hatte ihr bei der Gelegenheit junge Kätzlein geschenkt, die sie dann, zum Schrecken von Fräulein Rottenweiler, in das vornehme Haus schmuggelte. Ich sah keine Berge und fand auch keine Kätzlein. Wir bestaunten die Hochhäuser und Wolkenkratzer! Bis jetzt war mir die Skyline von Frankfurt nur von der Autobahn oder vom Flugzeug aus zu Augen gekommen. Toll!! Und dann noch mit dem Gemisch von Wolken und Sonne im Hintergrund. Alles glänzte in verschiedenen Grau- Blau- und Silbertönen. Da passte sogar meine neue Haarfarbe ganz gut dazu.


Wie ich leider zu spät entdeckt hatte, gibt es ein Struwwel-Peter Museum in Frankfurt. Ich habe es einfach immer noch mit Kindergeschichten, obwohl mir keine "Opfer" mehr zur Verfügung stehen, mit denen ich die Geschichten lesen, nachspielen und in eine dramatische Form bringen kann. Immerhin war "Heidi" eine meiner letzten Theaterproduktionen an der Schule. An das Schicksal des Struwwelpeter habe ich mich nie gewagt. Zu sehr erschreckten mich die Bilder vom Schicksal der ungehorsamen Kinder, des Hans guck in die Luft oder des Suppenkaspar. Und ich wage nicht, mir vorzustellen, mit welchen Mitteln der Autor des Buches, Heinrich Hoffmann, seine Zöglinge in der "Anstalt für Irre und Eptileptische" behandelt hat. Aber zurück zu Frankfurt.

Die Eindrücke, welche ich von den zwei Tagen nachhause bringe, sind vielfältig. Nach dem Besuch der bereits erwähnten Aussichtsterrasse der Galeria noch bei strahlendem Sommerwetter, kamen wir mit Einheimischen ins Gespräch. Das ergab sich am Weinfest in der Nähe des Börsenplatzes, wenn ich mich richtig erinnere. Die Leute, zu denen wir uns an den Stehtisch gesellten, wohnten im Stadtteil Sachsenhausen. Bei diesem Namen habe ich eine Geschichte im Kopf, die nichts mit Vergnügen zu tun hat. Der nette Herr googelte gleich nach dem gleichnamigen KZ, weil ich wissen wollte, wo sich dieses befände. Nicht dass ich ständig in den Wunden der Vergangenheit stochern will, aber eine gute Freundin war in jenem Lager. Es befindet sich in der Brandenburg. 

 
Der Börsenplatz mit Bulle und Bär. Sie symbolisieren Auf und Ab der Finanzwelt. (Bulle hinten mit Fotoapparat)

Die bereits etwas angegügelten Leute schickten uns zur Schweizerstrasse, ins "gemalte Haus" und zum "Apfelwein Wagner". Diese Adressen suchten ihr erst am zweiten Tag auf. Vorerst torkelten wir zur "Alten Wache" und bestellten den "Handkäs mit Musik" und die "Grüne Sosse", die man mit Kartoffeln und harten Eiern isst. Dietmars Gewohnheit, Kartoffeln und Butter mit einer Gabel zu einem Mus zu zerdrücken wird hier mit der grünen Sosse praktiziert - und niemand stösst sich daran! Übrigens "mit Musik" bedeutet durchaus mit "Live Musik", aber auf körpereigenem Instrument gespielt... 

Gut gelaunt zogen wir weiter zum Goethe Haus, wo Dietmar für den Abend eine dichterische Lesung gebucht hatte. Nein, kein "Erlkönig" und auch keine "Auszüge aus Dichtung und Wahrheit". "Dichten ist Übermut" (West.östlicher Divan) hiess die Lesung, die im Rahmen eines Lyrikfestivals stattfand. Drei Autoren mittleren Alters waren anwesend. Ein Moderator schaffte es, eine Verbindung zwischen den drei Menschen herzustellen, obwohl diese verschiedener nicht hätten sein könnten. Die Gemeinsamkeit bestand vielleicht darin, dass alle Gedichte schrieben, die ihre eigene Geschichte wiederspiegelten. Zwei Personen stammten aus einem Land, wo wir zurzeit mit gebanntem Blick hinschauen, Türkei und Syrien. Die dritte Person, eine Frau aus Deutschland, lebte kurze Zeit dank eines Stipendiums in Istanbul und erlebte die Besetzung und Räumung des Gezi Parkes aus nächster Nähe mit. Der palästinensische Autor, dessen Vater aus Palestina vertrieben wurde, eine syrische Mutter hat und in Damaskus lebte, hat eine schwerbelastete Geschichte, in die er uns Einblick verschaffte. Die türkische Autorin, eine sehr attraktive Frau Mitte vierzig, fand trotz ihres leichten Tons und ihrer lebhaften Natur einen Weg, uns ihre politischen Überzeugungen zu vermitteln. Wir lauschten den Texten in türkischer und arabischer Sprache. Danach folgte jeweils eine Übersetzung ins Deutsche. Spannend, wie die Autoren ganz verschieden rezitierten, die Texte sprachen, modellierten, sangen und mit Mimik und Gestik untermalten. Vor allem die deutsche Dichterin, sprach als sänge sie und dirigiere dabei ein ganzes Orchester. Ich verstand sehr viel, aber wenig Wörter! Es war ein toller Abend.

Der zweite Tag führte uns - dank Regen - gemeinsam mit der S-Bahn wieder in die Altstadt. Hätte die Sonne geschienen, hätte ich entweder mit einem vorsintflutlichen Stahlross in die Stadt fahren, oder aber das Risiko auf mich nehmen müssen, alleine mit der S-Bahn zu fahren und Dietmar in der Stadt zu treffen - oder eben nicht. (Wer meinen Orientierungssinn kennt, weiss Bescheid.) Unser Ziel waren der "Römer", der fünfeckige Hauptplatz der Stadt an dem bereits die alten Römer ihre Zelte aufgeschlagen haben sollen und die Museen. Wir schafften das Schintmuseum, in dem wir eine Ausstellung von Peter Saul, einem amerikanischer Künstler und die Ausstellung "Peace" besuchten. Die Bilder von Peter Saul waren zwar sehr bunt, die Geschichten ohne Scham und Scheu dargestellt - ein Portrait von Bush, nach dem Skandal von Abu Ghuraib zum Beispiel oder Szenen aus dem Vietnamkrieg in aller Perversität  dargestellt. Eindrücke die bleiben. Aber vom ästhetischen Standpunkt haben mir die Bilder nicht gefallen. Die Ausstellung "Peace" im selben Museum hat nur Fragezeichen hinterlassen. Aber auch Geschichten im Kopf entstehen lassen.

Die Suche nach dem "Frankfurter Kranz" einer Kuchenspezialität gleich einem Bechléring, blieb leider ohne Erfolg. Dafür gab es den Kaffee mit einem undefinierbaren süssen Klotz für mich und einem leckeren Stück Mandeltorte für Dietmar. Seine Wahl - ein Spezialangebot - war ohne Zweifel die bessere. Danach besuchten wir einen Flohmarkt, flanierten wir dem Main entlang, überquerten ihn auf dem "Eisernen Steg", zogen weiter zum wunderschön restaurierten "Römerberg" (90% von Frankfurt wurde 1944 durch Angriffe der Royal Air Force in Schutt und Asche gebombt) und weiter zur Paulskirche. Die als klassizistischer Rundbau konzipierte Kirche war im Zuge der Märzrevolution 1848 der Sitz des ersten demokratisch gewählte Parlaments, der Nationalversammlung. Hier bekam ich einen guten Einblick in die Geschichte der Staatsbildung Deutschlands. Die Kirche gilt als Nationales Denkmal und Symbol für die Demokratie Deutschland. Allerdings war diese keine reine Erfolggeschichte, da es in der Natur der Sache liegt, dass die Mächtigen nicht gerne Macht abgeben an andere, weniger Privilegierte. Ich bin ja gespannt, wie Macron das hinkriegen will. 

Da wir das Goethehaus am Abend zuvor nicht mehr besichtigen konnten, machten wir und jetzt nochmals auf den Weg dorthin. Wir waren nicht die einzigen - und hätte ich nicht vor kurzem Goethes "Dichtung und Wahrheit" als Hörbuch gehört, die Räume hätten mich wenig inspiriert. Jetzt aber sah ich, wie der kleine Wolfgang mit seiner Schwester Cornelia Verstecken spielte im geräumigen Hausflur, wie sie einander hinterher rannten, vom untersten bis in den vierten Stock, wo die Angestellten hausten, und von wo aus das ganze Haus zentral von einem grossen Ofen beheizt wurde. Ebenfalls hier oben unter der Dachschräge hatte der französische Leutnant, welcher sehr zum Leidwesen des Familienoberhauptes während der napoleonischen Besatzung im Hause Goethe wohnte, seinen eigenen Maler einquartiert. Das hatte dem kleinen Wolfgang sehr gefallen. Er muss wohl oft beim Porträtieren dabei gewesen sein und so seine Vorliebe fürs Malen entdeckt haben. Sicher hat er auch Malversuche unter Anleitung des sympathischen Fremden gemacht. Der Leutnant selber  bewohnte ein Zimmer im zweiten Stock und verstand sich mit der Frau Rat bestens. Das Spielzimmer, ebenfalls im Dachgeschoss gelegen, mit dem ziemlich erbärmlichen Überbleibsel eines Puppentheaters, hätte man viel anregender einrichten können, um so auch ein jüngeres Publikum anzusprechen!

Wir begaben uns zurück ins Hotel, um uns kurz auszuruhen, umzuziehen, und so fit zu sein, für das Viergangmenue im Restaurant "Alte Kanzlei", das mein Liebster gebucht hatte. Der Weg dorthin war mit der S-Bahn kein Problem. Allerdings fing auch ich an zu humpeln, teils aus Solidarität mit meinem Begleiter, teils aber auch wegen einem undefinierbaren Schmerz im Rist des linken Fusses, der sicher seinen Ursprung in meiner Neigung zu Plattfüssen hat. Meine Stadtschuhe, hübsch, flach, aber eben nicht für längere Strecken gedacht, trugen ihr weiteres dazu bei. Mein Humpeln übertraf das von Dietmar, der sich wacker schlug, wie immer wenn er neugierig ist. Das Restaurant erwartete uns, der Kellner war anständig, ein Italiener, der aber anscheinend jüngere, blonde und auch schwarzhaarige Damen den älteren, grauhaarigen vorzog. Das sagte mir mein feines Gespür für nonverbale Kommunikation. Aber das Essen war lecker, zog sich in eine angenehme Länge, so dass wir il conto hastig verlangen mussten, um rechtzeitig zum Höhepunkt des Tages zu gelangen. Dieser war mir, ich muss es zugeben, etwas suspekt, stellte er doch eine Performance-Art Darbietung in einem abgelegenen Quartier von Frankfurt dar. Aber gebucht von meinem umtriebigen Liebsten, galt es, den Weg dorthin mit der Strassenbahn zu finden. Auf dem Weg wurde einem bewusst, dass viele sehr arme Leute unterschiedlichster Nationen in Frankfurt leben, und hätte ich ein Kopftuch getragen, so hätte ich mich im knöchellangen T-Shirt, mit wehendem schwarzen Fledermausmantel nicht von diesen Menschen unterschieden. Natürlich nur äusserlich, weil ich gehöre ja zu den Privilegierten.

Wir erreichten den Ort mit Namen LAB kurz vor 22Uhr. Leute jeglichen Alters, die Mehrheit aber eher jüngeren Jahrgangs, flippig und unangepasst, standen lässig umher, tranken Bier oder Apfelwein, den ich mir sofort auch besorgte, wodurch meine Laune sich merklich besserte. Mein Liebster hatte mit dem unangepasst Flippigen gar kein Problem, im Gegenteil. Er bettelte einem jungen Veranstalter sofort zwei Zigaretten ab und freute sich am alternativen Ort unter seinesgleichen zu sein. Ich sah das alles etwas kritischer. Mit Verspätung begann die Performance. Zwei riesige schwarze Pappkartons waren in einem kahlen Raum bei Neonlicht auf der Bühne platziert. Sie fingen an sich zu bewegen und gaben polternde Töne von sich. Bald erblickte man hier und dann auch dort ein schwarzes Bein, dann zwei Körper, ganz in schwarzes Klebband eingehüllt. Diese wanden sich mit grosser Anstrengung aus ihrem Gefängnis. Beide Körper waren armlos, weil diese mit dem Klebband fest mit dem Oberkörper verbunden waren, wie bei einer Mumie. Nur mit Hilfe von Körperkraft und gegenseitiger Hilfe durch Stemmen und Stossen gelang es den Körpern, sich aufzurichten. Und dann folgte eine mühsame Entfesselung mit Hilfe von Zähnen und langsam frei werdenden Händen und Armen, bis auch der letzte Klebestreifen vom Fuss entfernt war. Eine langwierige, spannende Geschichte, die ganz auf gegenseitiger Hilfe basierte. Mir war die Geschichte allerdings ein bisschen zu lang. Ich hätte sie gekürzt!

Dann gäbe es noch die Geschichte der schwarzen Frau zu erzählen. Wir trafen sie auf der Rolltreppe, welche hinunter zur S-Bahn führte. Sie war jung, sehr dünn, trug eine schmutzige, ehemals weisse wattierte Jacke, den Reissverschluss bis zum Hals geschlossen. In einer Hand hielt sie einen Pappbecher. Ich wollte ihr den Vortritt lassen. Sie lehnte ab, reihte sich hinter uns ein und rannte, auf dem Bahnstieg angekommen, auf die S-Bahn zu. Die Türen schlossen sich, sie blieb aussen vor. Sie schien nicht sehr verwundert zu sein, setzte sich auf eine Bank und schaute mit ihren grossen schwarzen Augen nervös um sich. Manchmal machte sie mit den Armen seltsame wedelnde Bewegungen vor dem Gesicht, als wäre sie irre. Ab und zu trank sie aus dem Becher. Ich bin mir aber nicht sicher, ob da überhaupt etwas drin war. Unsere Bahn fuhr ein. Auch die Frau rannte zur Tür und fuhr mit uns, jetzt in die entgegengesetzte Richtung. Es schien ihr also nicht wichtig zu sein, wohin sie fuhr, nur dass sie fuhr. Kurze Zeit darauf wurden unsere Fahrkarten kontrolliert. Ich befürchtete, dass sie keine hatte. Sie tat mir leid und ich war gespannt, wie die beiden Kontrolleure mit ihr umgehen würden. Dem Älteren war der Sachverhalt sofort klar, er gab dem Jüngeren ein Zeichen, er solle sich um die Frau kümmern. Dieser unterhielt sich leise mit ihr. Bei der nächsten Haltestelle stieg die Frau aus. Allein. Was auch würde es bringen, die Unglückliche für ihr Schwarzfahren zu büssen? Man müsste sich ihrer annehmen, sie in eine Unterkunft bringen, ihre Identität überprüfen. Viel Arbeit - eine lange Geschichte. 

Und da wäre noch die Geschichte von der kleinen Maus, die Dietmar am Bein attackierte, während wir ein anderes Mal auf die U-Bahn warteten. Sie verschwand hinter einem Kioskautomaten. Eine zweite folgerte ihr bald darauf. Sicher hatten sie sich dort hinten gemütlich eingerichtet. Abfälle von irgendwelchen Snacks würden sich zur Genüge finden. U-Bahn-Mäuse! 


Modern und alt


Am Römer


Auf dem eisernen Steg


So viele Schlösser - ade Frankfurt!

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Salzburgs Kirchen und Konzert im Schloss Mirabell

Dernières impressions

Dernières Impressions